Werde ich sie noch einmal sehen? – meine Sterbebegleitung bei Frau K. (Teil 2)
In Teil 1 meiner Sterbebegleitung bei Frau K. erzähle ich dir, wie ich Frau K. das erste Mal traf. Sie wohnte in einer Demenz-WG und befand sich bereits im Sterbeprozess, als ich das erste Mal bei ihr war. Das fürsorgliche Pflegepersonal hatte ihr ermöglicht, in einem ruhigen Patientenzimmer, fernab des bunten WG-Trubels ihren letzten Weg anzutreten.
Im folgenden Teil 2 kannst du lesen, wie ich selbst vom Leben hin- und hergerissen meinen Gedanken nachhing – nachdem mich eine überraschende Nachricht vor dem geplanten Zweitbesuch ereilte.
Als ich mich am Vortag von Frau K. verabschiedet hatte, habe ich mich bei einem Gedanken ertappt: ich wünschte mir insgeheim, dass sie mit ihrem Sterben wartet, bis ich noch einmal bei ihr gewesen bin. Bis ich mich noch einmal an ihr Bett setzen und ihr meine warme Hand anbieten konnte.
Steht es mir überhaupt zu diesen Gedanken zu denken?
Schließlich geht es hier nicht um meine Bedürfnisse. In unserer Ausbildung zum ehrenamtlichen Hospizbegleiter haben wir gelernt, dass es in der Begleitung Sterbender nicht auf unser eigenes Bedürfnis nach Verwirklichung und dem Wunsch etwas Gutes zu tun ankommt. Die Essenz ist das Dasein, die pure Präsenz einem Menschen Zeit und Zuwendung zu schenken und dabei nichts zurückzuerwarten. Präsent sein ohne Erlebnissen in der Vergangenheit nachzuhängen oder Folgen für die Zukunft zu bewerten. Geben ohne nehmen zu wollen.
Ein paar Stunden vor meinem geplanten zweiten Besuch erhielt ich eine überraschende Nachricht.
Bei meinem ersten Besuch konnte ich altruistisch meine Bedürfnisse zurückstellen, als ich in ihrem heiligen Raum gemeinsam mit ihr atmete. Es war geplant Frau K. am Folgetag wieder zu besuchen. “Besuch Frau K. vielleicht lieber früher als später, wenn du noch einmal hin möchtest. Sie scheint recht fortgeschritten auf ihrem Weg.”, waren die Worte meines Koordinators des Hospizdienstes.
Mein Gefühl im Erstbesuch bestätigte sein Gefühl. Da war etwas sehr Finales in meiner Wahrnehmung.
Als ich am Morgen des geplanten zweiten Besuchstags aufgewacht war, freute ich mich, Frau K. heute wieder zu besuchen, damit sie nicht alleine sein muss. Ein paar Stunden vor dem Besuch jedoch bekam ich die Nachricht, dass ich Kontaktperson einer Covid-positiv getesteten Person war. Enttäuscht schloss ich meine Augen, atmete genervt aus, hielt inne und ging in mich – mit dem Erinnerungsfetzen vor meinem geistigen Auge, wie unruhig Frau K. gestern in ihrem Bett lag. Die außergewöhnliche Zeit der Covid-Pandemie lehrte uns regelmäßig, dass Gesundheit ein kostbares Gut ist und, dass es sehr oft das eigene Bedürfnis zurückzustellen gilt. Auch, wenn wir uns in unserer eigenen Vorstellung andere Pläne zurechtgelegt haben.
Wir hatten weder Augen- noch Sprachkontakt, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie gespürt hat, dass sie nicht alleine war.
Mir riss es beim Gedanken Frau K. beim Erstbesuch bereits auch das letzte Mal gesehen zu haben mein Herz in kleine Stücke. Doch ich hatte keine andere Wahl als vernünftig und verantwortungsbewusst zu handeln. Vor allem für das Pflegepersonal, das menschlich Unglaubliches leistet(e) und all die anderen hochbetagten und vulnerablen Bewohner:innen der Pflegeeinrichtung.
Dass ich Frau K. drei Stunden meiner eigenen Zeit schenken und für sie da sein konnte, war meine einzige Wiedergutmachung. Wir hatten weder Augen- noch Sprachkontakt, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie gespürt hat, dass sie nicht alleine war.
Es ist gut in der Endlichkeit unserer Tage nicht immer alles in der Hand zu haben.
Es fiel mir nicht leicht, doch ich versuchte die Situation anzunehmen, wie sie nun war. Während ich also zuhause saß und hoffte als Kontaktperson selbst nicht Covid-positiv zu sein (ich war es nicht), blitzten in meinen Gedanken Erinnerungsfetzen an den Besuch am Vortag vor meiner inneren Leinwand auf.
Ich erinnerte mich gedankenverloren an den ersten Besuch: Auf einem Schränkchen hinter dem Pflegebett von Frau K. lag ein brauner Haarreif und kleine goldene Haarspangen, die durcheinander gewürfelt beieinander lagen. Eine Glasperlenkette aus verschieden bunten Steinen umrahmte das Stillleben ihrer Haar-Accessoires.
Wie schön wohl ihre grauweißen Haare frisiert ausgesehen haben müssen, die nun verstrubbelt ins Kissen gedrückt lagen?
Hat Frau K. sich bei ihrem Ankommen in der Demenz-WG noch selbst frisiert oder bekam sie dabei Hilfe?
In welcher Form hat sie wohl ihre Haare frisiert?
Welche der Haarspangen mochte sie besonders gerne?
Ich malte mir aus wie Frau K. in die Pflegeeinrichtung einzog – mit frisch frisiertem, lebendigem Haar und schicker Glasperlenkette um den Hals. Nun lag die Kette fromm wie ein Stilleben auf einem typisch 80er-Jahre braunen Fotoalbum. Wie der heilige Gral eines Lebens, das nun langsam verblasste und leise in der Stille des Raumes verschwand.
Vermutlich war das die geballte Fotosammlung eines Lebens, das verschlossen vor uns lag in all seiner Intimität. Die Erinnerungen an eine Frau, die gerade ihren letzten Weg alleine gehen wird.
Steht mir denn der Wunsch zu, dass Frau K. mit ihrem Versterben wartet, bis ich noch einmal bei ihr gewesen bin?
Ob wohl die liebe Pflegerin von gestern auch heute Dienst hat?
Holt eine bereits verstorbene Seele Frau K. zu sich, nach der sie gestern so zielsicher griff?
In diesem Moment dachte ich mir: „Ob ich Frau K. noch einmal sehen werde, weiß nur das Allmächtige. Und das ist auch gut so.“ Es ist gut in der Endlichkeit nicht immer alles in der Hand zu haben. So gerne wir das auch hätten. Frau K. ging zwei Tage später ins Licht. Ich konnte nicht mehr bei ihr sein.
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